„Mitten in der allgemeinen Misere des Jahres 2020 war Amazon paradoxerweise aufgeblüht“, schreibt Brad Stone, bevor er die Bilanz des Covid-19-Geschäfts zieht: „Ende des Jahres konnte sich Amazon mit einem Börsenwert von 1,6 Billionen Dollar brüsten, während Jeff Bezos’ Reinvermögen 190 Milliarden Dollar betrug. Sein Reichtum war während der Pandemie um 70 Prozent gestiegen. Dies war eine atemberaubende Leistung und zugleich ein krasser Kontrast gegenüber der durch das Virus ausgelösten wirtschaftlichen Verwüstung und Not unter den Beschäftigten der Amazon-Logistikzentren.“ Wie erreicht ein einzelner Mensch solche Macht und wofür nutzt er sie? Wie verändert diese Macht eine Gesellschaft, welche Kräfte stellen sich ihr entgegen? Brad Stone zeichnet in seinem Report, für den er viele Führungskräfte der Bezos-Unternehmen befragen konnte, den rasanten Aufstieg von Amazon und seinem Gründer nach.

David Paul Morris

Bereits in Der Allesverkäufer analysierte er, mit welchen Methoden und in höchstem Tempo von Amazon Produkte entwickelt, Geschäftsfelder erobert und Märkte dominiert wurden. Nun erzählt er detailliert, wie Jeff Bezos sein Unternehmen zum Unterhaltungskonzern ausbaut, mit Rechenzentren einen Gutteil des Internets betreibt und mit seiner eigenen Rakete ins All fliegen will. Dieses enorme Wachstum forderte Kritik heraus: „Während Amazon Investoren und Kunden bezirzte, manövrierte sich das Unternehmen auch ins Zentrum eines erbitterten politischen Ringens, das durchaus das Zeug hatte, den Marktkapitalismus neu zu definieren. Nach Ansicht seiner vehementesten Kritiker hatte eine derart unverfrorene Anhäufung von Macht und Reichtum auch ihren Preis; sie verschlimmerte die Einkommensungleichheit und verschlechterte die Chancen von Arbeitern ebenso wie die von lokalen Einzelhändlern.“ Während des Präsidentschaftswahlkampfes 2020 fragten die Demokraten nach Lohnerhöhungen in den Logistikzentren und nahmen Amazon wegen der geringen Körperschaftsteuerzahlungen ins Visier. Jeff Bezos hob den Stundenlohn auf fünfzehn Dollar an, für einige Beschäftigte lag er zuvor bei zehn Dollar, allerdings strich er teilweise Lohnzusatzleistungen. Diese Methode, „auf Probleme nur dann zu reagieren, wenn sich die Proteste in der Öffentlichkeit häuften“, nutzte er gern.

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2013 kaufte er die Washington Post, das Blatt ärgerte mit Faktenchecks und Enthüllungsstorys Donald Trump. Der Präsident kritisierte immer wieder Amazons Steuerpraktiken, einen Deal mit der US-Bundespost und den Niedergang des Einzelhandels. Im Juni 2017 empfing er die Chefs großer IT-Konzerne im Weißen Haus, auf dem Foto sitzt zwischen Trump und Bezos Microsoft-CEO Satya Nadella. Im letzten Kapitel untersucht Brad Stone, weshalb Jeff Bezos am 2. Februar 2021 seinen Rückzug von der Spitze ankündigte. Offenbar sind die Zeiten vorbei, in denen das Unternehmen fast ungehindert vorpreschen konnte: „Man musste komplizierte, alternde Geschäftssparten überwachen wie den Amazon Marketplace mit seiner Masse von unzufriedenen Anbietern, die sich permanent über Betrug und Wettbewerbsverzerrung beschwerten, dazu das Amazon-Logistiknetzwerk mit einer Million einfachen Arbeitern, von denen ein Teil sich lautstark bemerkbar machte und für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen eintrat.“ Amazon unaufhaltsam blickt intensiv und kritisch hinter die Kulissen des Konzerns in seiner schwierigsten Phase. Sein Gründer verfolgt viele neue Ideen und gleichzeitig leidet sein Image. Brad Stone hinterfragt die Erfolge und spricht von einem ungeheuren Imperium kurz vor der Entfesselung.

Brad Stone: Amazon unaufhaltsam – Wie Jeff Bezos das mächtigste Unternehmen der Welt erschafft. Übersetzt von Claudia Arlinghaus, Ariane Böckler, Bernhard Josef und Inge Wehrmann; Ariston 2021, 544 Seiten

Wie in einem Gesellschaftsroman entwickelt der Journalist Alec MacGillis das Drama von wachsender regionaler Ungleichheit und wirtschaftlicher Konzentration. Er untersucht in Ohio, Pennsylvania und Maryland, weshalb die Mittelschicht den Boden unter den Füßen verliert: „Amazon bietet einen idealen Rahmen zum Verständnis des Landes und seiner Entwicklung, weil es exemplarisch für viele Unternehmen steht und uns ermöglicht, diese zu verstehen. Da ist zum einen die extreme Vermögensungleichheit – das unfassbar große Privatvermögen des Gründers und die bescheidenen Löhne eines Großteils der Angestellten. Da ist die Art der Arbeit, die die meisten von ihnen erledigen: harte körperliche Arbeit, die weit draußen am Rande der Stadt geleistet wird, oft mit unregelmäßigen Arbeitszeiten und wechselnden Schichten.“ Aus der Hauptstadt Washington berichtet er, wie Jeff Bezos durch den Kauf der Washington Post und eines neuen Hauses enorm an Präsenz gewann, um Lobbyarbeit zu betreiben gegen die Umsatzsteuer, die Regulierung von Drohnen und Prüfungen des Kartellamts, für Regierungsaufträge und günstige Zustellpreise der Post.

J. M. Giordano

In Texas spielt sein Kapitel über den Amazon Marketplace, der den regionalen Einzelhandel unter Druck setzte. Wenn Amazon Ausschreibungen von Verwaltungen gewann, konnten lokale Anbieter diese Behörden nur über ihn erreichen. Sie mussten Provisionen zahlen, die ihre Gewinne minimierten. Viele gaben auf, was den Einzelhandel der Kommunen ruinierte und ihre Steuereinnahmen senkte. Bürgerinnen und Bürger wehrten sich in Virginia und Ohio gegen den Bau von AWS-Rechenzentren, weil durch deren hohe Stromkosten ihre eigene Rechnung stieg und extra für Amazon vom Staat eine Überlandleitung gebaut werden musste. In Seattle, dem Unternehmenssitz von Amazon, stiegen die Lebenshaltungskosten stark und verdrängten alle, die auf dem steilen Weg nach oben nicht mithalten konnten. Jeff Bezos wählte die Stadt, um in großen Bundesstaaten wie Kalifornien die Umsatzsteuer zu vermeiden. Den tiefgreifenden Strukturwandel der Industrie schildert Alec MacGillis am Beispiel von Baltimore in Maryland, wo er lebt.

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Wo früher Stahlwerke standen, baute Amazon gigantische Lagerhallen: „Der mittlere Stundenlohn lag unternehmensweit bei nur 13 Dollar, 28 000 Dollar im Jahr – so niedrig, dass der Konzern, als die Belegschaft insgesamt immer größer wurde, den Durchschnittslohn für Lagermitarbeiter landesweit nach unten zog“, analysiert er, „Der Konzern trat gewissermaßen als einziger Käufer einer Ware auf, für die es viele Anbieter gab: die Arbeitskraft. Je größer Amazon wurde und je mehr es die örtlichen Arbeitsmärkte dominierte, desto weniger Wettbewerb gab es um die Arbeitskräfte, und desto weniger musste es ihnen zahlen.“ Arbeitsunfälle wurden vertuscht, Amazon nur zögerlich von den Behörden in die Pflicht genommen. Alec MacGillis schrieb eine sehr lesenswerte, umfangreich recherchierte Reportage. Seine Protagonisten erzählen ihre eigene Geschichten und die von früheren Unternehmen, wir erfahren viel über gesellschaftliche, kulturelle und politische Veränderungen. Sein Buch hilft, die letzten einhundert Jahre Geschichte der USA besser zu verstehen. Ein Jahrzehnt lang verfolgte er diese Idee und realisierte sie während der Präsidentschaft von Donald Trump. Die Bundesstaaten, die er bereiste, spielten bei den Wahlen 2016 und 2020 eine entscheidende Rolle. Vor allem zeigt Alec MacGillis, wie hemmungslos ein Konzern wie Amazon agiert, wenn die Politik es versäumt, seine Macht zu regulieren.

Alec MacGillis: Ausgeliefert – Amerika im Griff von Amazon. Übersetzt von Tobias Schnettler und Bert Schröder; S. Fischer 2021, 448 Seiten